Navigation auf uzh.ch
Vorlesung Mo 14-16, Hörsaal RAI-F-041, V-Nr. 2136
Statt in einer friedlich erschlossenen globalen modernen Welt, endete die europäische Neuzeit in Katastrophen, Krisen, autoritären Neuentwürfen und tödlichen Utopien. Diesen Umbrüchen in der Old World, der osmanischen Welt und Europa, geht die Vorlesung, die diejenige vom Frühjahr fortsetzt, nach. Ihr Rückgrat bildet – im Unterschied zu anderen Narrativen der Weltkriegsäre – die spät- und postosmanische Welt. In der Interaktion mit ihr und weiterhin (und nach 1945 wiederum) offenen Nahostfragen lösten europäische Mächte den Weltkrieg aus – und damit eine Kaskade von global relevanten Ereignissen wie die Russische Revolution, die Balfour-Erklärung und den US-amerikanischen Kriegseintritt in Europa.
Europäische Weltmacht der Belle Epoque war mit Sozialdarwinismus, nicht (mehr) mit dem aufklärerischen Glauben an die Einheit des Menschengeschlechts und einem entsprechenden globalen Projekt einhergegangen – im Unterschied zum errand to the world US-amerikanischer Progressiver. Die Jungtürken, die nach Europa aufschauten, hatten nach den Balkankriegen die Hoffnung auf einen osmanischen Reformstaat im Nahen Osten, die noch 1908 durch alle Provinzen von Saloniki und Istanbul bis Diyarbekir, Jerusalem und Bagdad pulsiert hatte, verloren.
Nach einem Putsch standen 1913 komitaji an der Spitze des Grossreichs. Die improvisatorische jungtürkische Komiteediktatur implementierte radikal völkisches, türkistisches, Gedankengut; verband expansiven Krieg mit antichristlichem Klassen-, Religions- und Rassenkampf in Kleinasien; und vollzog in der Old World 1915 den ersten modernen Genozid (Aghet). Ihr imperiales – pantürkisches und panislamisches – Projekt scheiterte zwar. Doch legte sie die Grundlagen für den Ethnonationalstaat Türkei in Kleinasien, den die aus den Jungtürken hervorgegangenen Kemalisten 1923 gründeten und danach rassenanthropologisch legitimierten. In der Zwischenkriegszeit fand sich liberaler Parlamentarismus konkurrenziert durch (im Anspruch) «hypermoderne» kemalistische, faschistische und sowjetische Systeme.
Die europäischen Versuche, die Old World neu zu ordnen, Hegemonien zu errichten oder solche einzudämmen; oder enthusiastisch Mensch, Gesellschaft, Nation und Welt neu zu schaffen, endeten 1945 in der totalen Niederlage jener Macht, die im August 1914 nationale Urstände gefeiert und mit der Erwartung verdienter Vorherrschaft über die Old World in den Krieg gezogen war. Eine Synthese aus alldeutschem Nationalismus, Kriegssozialismus und Kriegstrauma, reagierte der Nationalsozialismus mit Ressentiments und Mythen auf die Niederlage und den daraus resultierenden Vertrag von Versailles. 1933 sorgte seine Herrschaft für erneute «Pseudo-Pfingsten» wie auch für Arbeitsplätze nach schwerer Krise. Sie versprach, Deutschland auf der Basis einer «erwählten» Volksgemeinschaft zu Reich und Grösse (zurück) zu führen.
Mit dem Vorhaben, die Niederlage von 1918 rückgängig zu machen und die Neuordnung vor allem Osteuropas zu revidieren, steuerte das nationalsozialistische Deutschland auf weitere Kriege und schliesslich die Neuauflage eines Vernichtungskrieges gegen Russland zu. Es ermordete ab 1941 in einem finalen Amok fast zwei Drittel der Juden Europas –– eine Schreckenstat, die die Gründung eines jüdischen Staates im postosmanischen Palästina beschleunigte und dessen Charakter prägte. Noch blieben damals indes Nahostfragen im Hintergrund der Konflikte der beiden Supermächte, die aus der Ära der Weltkriege hervorgingen.
Lektüren zur Einführung: J. Friedman (Hg.): The Routledge History of the Holocaust, 2011; H. Kieser: Vorkämpfer der "Neuen Türkei", 2005; H. Kieser und D. Schaller (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah, 2002: 1-80; T. Snyder: Bloodlands: Europe between Hitler and Stalin, 2010; H. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, 2003; M. Wildt: Generation des Unbedingten, 2002.